78 episodes

Gedichte verstehen

Der Podcast verbindet Gedichtrezitation und Deutungsansätze zu den Texten. Damit soll ein erster Verstehenszugang ermöglicht werden.

Die Textauswahl umfasst sämtliche Epochen der deutschen Literatur vom Mittelalter bis zur Gegenwart und nimmt sowohl sehr bekannte als auch weniger bekannte Texte in den Blick.

Lyrikschule Johannes Thiele

    • Arts

Gedichte verstehen

Der Podcast verbindet Gedichtrezitation und Deutungsansätze zu den Texten. Damit soll ein erster Verstehenszugang ermöglicht werden.

Die Textauswahl umfasst sämtliche Epochen der deutschen Literatur vom Mittelalter bis zur Gegenwart und nimmt sowohl sehr bekannte als auch weniger bekannte Texte in den Blick.

    Folge 77 - Die Kühe sind schuld (Odile Kennel)

    Folge 77 - Die Kühe sind schuld (Odile Kennel)

    In dieser Folge geht es um ein Gedicht, das die Mechanismen im Umgang mit der Klimakrise offenlegt. Außerdem wird ein neuer methodischer Zugang zu Lyrik vorgestellt.

    Die Kühe sind schuld

    Die Kühe sind schuld
     am Schlamm am Schlamassel
    am maßlosen Regen, hinterlassen
    Paarhuferspuren im All
    im allgegenwärtigen Klima,
    killen den Himmel, die wahren
    Sünder, heißt es, seien die Kühe.

    Doch die wissen von nichts.
    Verlangen nicht viel: Wollen nur grasen,
    weiche Nasen ins Grün
    drücken, das ihnen blüht,
    in Ruhe muhen, Ruhe vor Fliegen,
    in Ruhe auf Wappen posiern,
    Almen bevölkern und tiefere
    Wiesen als Schlumpen
    mit Artgenossinnen schunkeln,
    Färse sein, Milchkuh
    ja, auch mal heilig, aber vor allem:
    äsen, mahlen, vier Mägen
    hegen, rülpsen und schließlich acht
    bis zehn Fladen am Tag fabriziern.

    Doch heißt es: Der Bock ist
    die Kuh, die Mist baut, wenn sie
    verdaut, sie ist wahnsinnig
    schädlich fürs Atmosphärische
    auf der Methanebene gänzlich
    passé. Und sind die Kühe nicht
    auch schuld an der Krise? Wir
    dekretieren das elfte Gebot: Die Abschaffung
    der Kühe tut Not.

    • 24 min
    Folge 76 - Weihnachten (Rilke, Storm, Loriot)

    Folge 76 - Weihnachten (Rilke, Storm, Loriot)

    Weihnachten ist die Zeit der Besinnung, die Zeit der Kinder, auch eine melancholische Zeit und nicht zuletzt eine Zeit der absurden Rituale und nervenaufreibenden Familienfeiern. Anhand von drei Gedichten sollen Schlaglichter auf diese Zeit geworfen werden, wenngleich es sich nicht um die ganz typischen Weihnachtsgedichte 'unterm Tannenbaum' handelt.



    Rainer Maria Rilke

    Das KarussellJardin du LuxembourgMit einem Dach und seinem Schatten drehtsich eine kleine Weile der Bestandvon bunten Pferden, alle aus dem Land,das lange zögert, eh es untergeht.Zwar manche sind an Wagen angespannt,doch alle haben Mut in ihren Mienen;ein böser roter Löwe geht mit ihnen
    und dann und wann ein weißer Elefant.Sogar ein Hirsch ist da, ganz wie im Wald,nur dass er einen Sattel trägt und drüberein kleines blaues Mädchen aufgeschnallt.
    Und auf dem Löwen reitet weiß ein Jungeund hält sich mit der kleinen heißen Handdieweil der Löwe Zähne zeigt und Zunge.
    Und dann und wann ein weißer Elefant.
    Und auf den Pferden kommen sie vorüber,auch Mädchen, helle, diesem Pferdesprungefast schon entwachsen; mitten in dem Schwungeschauen sie auf, irgendwohin, herüber –.Und dann und wann ein weißer Elefant.Und das geht hin und eilt sich, dass es endet,und kreist und dreht sich nur und hat kein Ziel.Ein Rot, ein Grün, ein Grau vorbeigesendet,ein kleines kaum begonnenes Profil –.Und manchesmal ein Lächeln, hergewendet,ein seliges, das blendet und verschwendetan dieses atemlose blinde Spiel ...



    Theodor Storm

    Weihnachtslied

    Vom Himmel bis in die tiefsten Klüfteein milder Stern herniederlacht;vom Tannenwalde steigen Düfteund kerzenhelle wird die Nacht.



    Mir ist das Herz so froh erschrocken,

    das ist die liebe Weihnachtszeit!

    Ich höre fern her Kirchenglocken

    mich lieblich heimatlich verlocken


    in märchenstille Herrlichkeit.

    Ein frommer Zauber hält mich wieder,

    anbetend, staunend muß ich stehn;

    es sinkt auf meine Augenlider

    ein goldner Kindertraum hernieder,
    ich fühl's, ein Wunder ist geschehn.





    Loriot

    Advent



    Es blaut die Nacht. Die Sternlein blinken.

    Schneeflöcklein leis’ niedersinken.

    Auf Edeltännleins grünem Wipfel

    häuft sich ein kleiner weißer Zipfel.

    Und dort, vom Fenster her durchbricht

    den dunklen Tann' ein warmes Licht.

    Im Forsthaus kniet bei Kerzenschimmer

    die Försterin im Herrenzimmer.

    In dieser wunderschönen Nacht

    hat sie den Förster umgebracht.

    Er war ihr bei des Heimes Pflege

    seit langer Zeit schon sehr im Wege.

    So kam sie mit sich überein:

    Am Niklasabend soll es sein.

    Und als das Rehlein ging zur Ruh',

    das Häslein tat die Augen zu,

    erlegte sie - direkt von vor'n

    - den Gatten über Kimm' und Korn.

    Vom Knall geweckt rümpft nur der Hase

    zwei-, drei-, viermal die Schnuppernase.

    Und ruhet weiter süß im Dunkeln,

    Derweil die Sternlein traulich funkeln.

    Und in der guten Stube drinnen,

    da läuft des Försters Blut von hinnen.

    Nun muß die Försterin sich eilen,

    den Gatten sauber zu zerteilen.

    Schnell hat sie ihn bis auf die Knochen

    nach Waidmanns Sitte aufgebrochen.

    Voll Sorgfalt legt sie Glied auf Glied

    - was der Gemahl bisher vermied -

    Behält ein Teil Filet zurück,

    als festtägliches Bratenstück.

    Und packt zum Schluss - es geht auf vier -

    die Reste in Geschenkpapier.

    Da dröhnt's von fern wie Silberschellen.

    Im Dorfe hört man Hunde bellen.

    Wer ist's, der in so tiefer Nacht

    im Schnee noch seine Runde macht?

    Knecht Ruprecht kommt mit gold’nem Schlitten

    auf einem Hirsch herangeritten!

    »He, gute Frau, habt ihr noch Sachen,

    die armen Menschen Freude machen?«

    Des Försters Haus ist tief verschneit,

    doch seine Frau steht schon bereit:

    »Die sechs Pakete, heil'ger Mann,

    's ist alles, was ich geben kann!«

    Die Silberschellen klingen leise.

    Knecht Ruprecht macht sich auf die Reise.

    Im Försterhaus die Kerze brennt.

    Ein Sternlein blinkt:

    Es ist Advent.

    • 22 min
    Folge 75 - Krieg dem Kriege (Kurt Tucholsky)

    Folge 75 - Krieg dem Kriege (Kurt Tucholsky)

    In der heutigen Folge soll erneut ein pazifistisches Gedicht im Mittelpunkt stehen. Es ist nicht das erste auf diesem Kanal, was zeigt, wie wichtig mir das Thema ist. Wichtig einerseits und andererseits erschütternd, wie wenig der Mensch dazuzulernen scheint, wie blindwütig er sich anschickt, munter die alten Fehler zu wiederholen und zu wiederholen und zu wiederholen. Das tut aber der Größe dieses Textes, der keinesfalls blind, sondern geradezu hellsichtig zu nennen wäre, keinen Abbruch!





    Krieg dem Kriege

    Sie lagen vier Jahre im
    Schützengraben.Zeit, große Zeit!Sie froren und waren verlaust und habendaheim eine Frau und zwei kleine Knaben,

    weit, weit –!


    Und keiner, der ihnen die Wahrheit sagt.Und keiner, der aufzubegehren wagt.Monat um Monat, Jahr um Jahr …
    Und wenn mal einer auf Urlaub war,

    sah er zu Haus die dicken Bäuche.

    Und es fraßen dort um sich wie eine Seucheder Tanz, die Gier, das Schiebergeschäft.Und die Horde alldeutscher Skribenten kläfft:
    „Krieg! Krieg!

    Großer Sieg!

    Sieg in Albanien und Sieg in Flandern!“Und es starben die andern, die andern, die andern …
    Sie sahen die Kameraden fallen.Das war das Schicksal bei fast allen:

    Verwundung, Qual wie ein Tier, und Tod.

    Ein kleiner Fleck, schmutzigrot –und man trug sie fort und scharrte sie ein.Wer wird wohl der nächste sein?
    Und ein Schrei von Millionen stieg auf zu den Sternen.

    Werden die Menschen es niemals lernen?

    Gibt es ein Ding, um das es sich lohnt?Wer ist das, der da oben thront,von oben bis unten bespickt mit Orden,und nur immer befiehlt: Morden! Morden! –

    Blut und zermalmte Knochen und Dreck …

    Und dann hieß es plötzlich, das Schiff sei leck.Der Kapitän hat den Abschied genommenund ist etwas plötzlich von dannen geschwommen.Ratlos stehen die Feldgrauen da.

    Für wen das alles? Pro patria?


    Brüder! Brüder! Schließt die Reihn!Brüder! das darf nicht wieder sein!Geben sie uns den Vernichtungsfrieden,ist das gleiche Los beschieden

    unsern Söhnen und euern Enkeln.

    Sollen die wieder blutrot besprenkelndie Ackergräben, das grüne Gras?Brüder! Pfeift den Burschen was!Es darf und soll so nicht weitergehn.

    Wir haben alle, alle gesehn,

    wohin ein solcher Wahnsinn führt –
    Das Feuer brannte, das sie geschürt.Löscht es aus! Die Imperialisten,die da drüben bei jenen nisten,

    schenken uns wieder Nationalisten.

    Und nach abermals zwanzig Jahrenkommen neue Kanonen gefahren. –Das wäre kein Friede.

                                Das wäre Wahn.

    Der alte Tanz auf dem alten Vulkan.

    Du sollst nicht töten! hat einer gesagt.Und die Menschheit hörts, und die Menschheit klagt.Will das niemals anders werden?Krieg dem Kriege!

                            Und Friede auf Erden.

    • 21 min
    Folge 74 - Dann gibt es nur eins (Wolfgang Borchert)

    Folge 74 - Dann gibt es nur eins (Wolfgang Borchert)

    Im strengen Sinne ist der Text natürlich kein Gedicht, auch wenn er sich durch eine ausgeprägte Sprachrhythmik und hohe Bildlichkeit auszeichet. Ich möchte dieses Manifest des Pazifismus aber gerne mit allen Hörer:innen teilen und hoffe, dass der Text bei allen einen so bleibenden Eindruck hinterlässt, wie bei mir. In der Folge bleibt es bei der Rezitation - ohne jeden Kommentar, denn der ist überflüssig!

    • 9 min
    Folge 73 - Wie rezitiere ich ein Gedicht?

    Folge 73 - Wie rezitiere ich ein Gedicht?

    Am Beispiel von Johannes R. Bechers Gedicht "Ballade von den dreien" erkläre ich, wie man vorgeht, um ein Gedicht vorzutragen.



    Ballade von den dreien



    Der Offizier rief: „Grabt den Juden ein!"Der Russe aber sagte trotzig: „Nein!"

    Da stellten sie den in das Grab hinein.Der Jude aber blickte trotzig: „Nein!"
    Der Offizier rief: „Grabt die beiden ein!"Ein Deutscher trat hervor und sagte: „Nein!"

    Der Offizier rief: „Stellt ihn zu den zwein!Grabt ihn mit ein! Das will ein Deutscher sein!"

    Und Deutsche gruben auch den Deutschen ein...

    • 30 min
    Folge 72 - Rainald Grebe II

    Folge 72 - Rainald Grebe II

    In der zweiten Folge zu Rainald Grebe geht es schwerpunktmäßig um seinen genresprengenden Roman 'Global Fish' von 2006. Hier gibt es keine klare Abgrenzung von Epik, Lyrik oder Dramatik - in den Roman sind immer wieder kleine Gedichte und Lieder, die der Autor auch vertont hat, eingebaut.



    Ein zentraler Reflexionstext des Romans ist das folgende Gedicht:



    An Deck machte ich
    mir Gedanken

    Führte
    Selbstgespräche zum Thema: Worum geht es.

    Es geht doch darum, sagte
    ich laut,

    wenn ich mich
    unbeobachtet fühlte,

    darum, wirklich was
    zu erleben.

    Darum geht es.

    Nicht nur
    oberflächlich, so und so, hier und da,

    sondern wirklich zu
    erleben,

    was unter die Haut
    geht wie ein Tattoo.

     

    Ich will mit Frauen
    aus fünf Kontinenten schlafen,

    alle Drogen
    ausprobieren, die es gibt,

    dann sehr gesund
    leben,

    enthaltsam wie ein
    Heiliger,

    dass ich alt werden
    kann

    wie Goethe oder
    Nelson Mandela.

    Lernen, schaffen,
    hinterlassen,

    Familie, Kinder,
    Enkel,

    Kunst, Wissenschaft
    und Leben,

    den ganzen Globus
    kennen und den Mond.

    Wirklich gebildet
    will ich werden,

    ein Bild von einem
    Menschen,

    mein Leben, sagte
    ich laut,

    wird ein langer
    Entwicklungsroman

    und auf dem
    Buchrücken steht:

    Dieser Junge hat
    sich sehr gut entwickelt.



    Weitere Lieder werden in der Folge angespielt. Ich verweise aber gerne erneut auf den reichen Fundus an weiteren Aufnahmen, die auf Youtube zu finden sind.

    • 38 min

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